Nachrichten > Medikamente und Heimerziehung
Medikamente wurden in Kinderheimen nicht nur getestet, sondern auch als Strafe eingesetzt. © RUB, Marquard

Medikamente und Heimerziehung

Ein Autorenteam der Ruhr-Universität Bochum weist Medikamentenmissbrauch in der Heimerziehung der Nachkriegszeit nach und bewertet diesen ethisch.

Der Historiker Dr. Uwe Kaminsky und die Ethikerin Prof. Dr. Katharina Klöcker von der Ruhr-Universität Bochum (RUB) beleuchten in ihrem Buch „Medikamente und Heimerziehung am Beispiel des Franz Sales Hauses“ lange Zeit verschwiegene Formen des Missbrauchs von Medikamenten, insbesondere Psychopharmaka. Rechtlich gesehen spielten sich damalige Medikamententests in Heimen in einem Graubereich ab, da Testungen an Minderjährigen nicht generell verboten waren und Einwilligungen von Erziehungsberechtigten auch nur mündlich erteilt werden konnten.

Am Beispiel des Franz-Sales-Hauses in Essen zeigen die Wissenschaftler in einer der ersten umfangreichen wissenschaftlichen Analysen, dass mindestens ein Medikament vor seiner Markteinführung an Heimkindern getestet wurde, zum Teil unter Inkaufnahme erheblicher Nebenwirkungen. Im Erziehungsalltag seien Medikamente zudem als Disziplinierungsmittel eingesetzt worden. Aktenrecherchen und Zeitzeugeninterviews vermitteln ein umfassendes Bild des Medikamenteneinsatzes.

Ethische Akzentsetzung als Bochumer Besonderheit

Eine Besonderheit der Bochumer Studie ist ihre ethische Akzentsetzung. Auf Grundlage der historischen Rekonstruktion der Medikamententests legt das Buch erstmals eine ausführliche ethische Bewertung von Medikamentengaben im Heimkontext vor.

Exemplarisch richtet sich dabei der Blick auf den in den 1950er- und 1960er-Jahren im Franz-Sales-Haus amtierenden Anstaltsarzt, der Medikamente nicht nur aus therapeutischen Gründen einsetzte, sondern diese testete und darüber hinaus als Disziplinierungsmittel zur Aufrechterhaltung der Struktur des Heims nutzte. Diese Formen des Medikamenteneinsatzes werden in der Studie dezidiert als Missbrauch eingeordnet.

„Auch unter Berücksichtigung des zeitgeschichtlichen Kontextes ist eine Rechtfertigung der Medikamentengaben zum Wohl der Kinder nicht haltbar“, so Katharina Klöcker. Institutionelle und strukturelle Bedingtheiten hätten das Handeln des Arztes zwar beeinflusst. Er sei aber trotzdem in hohem Maße mitverantwortlich dafür, „dass den Heimkindern im Franz-Sales-Haus durch moralisch nicht zu rechtfertigende Medikamentengaben großes Leid widerfuhr“.

Anliegen

Ein zentrales Anliegen der Studie ist es, im Eingedenken des Medikamentenmissbrauchs in der Heimerziehung der Nachkriegsjahrzehnte ein Bewusstsein für mögliche Formen des Medikamentenmissbrauchs in der Gegenwart zu schärfen. Zugleich wollen die Autoren einen nachhaltigen Beitrag zur Anerkennung des Leids der ehemaligen Heimkinder leisten.

Reaktion des Franz-Sales-Hauses

„Die bedrückenden Erkenntnisse zum Umgang mit Medikamenten in der damaligen Zeit machen uns betroffen“, so der Direktor des Franz-Sales-Hauses, Hubert Vornholt.

Sie zeigten, wie wichtig die Auseinandersetzung mit der Geschichte sei: um das Leid der Betroffenen anzuerkennen und Lehren für Gegenwart und Zukunft zu ziehen. Neben der historischen Aufarbeitung sei die ethische Reflexion von besonderem Wert, betonte Vornholt. Die Ergebnisse des interdisziplinären Drittmittelprojekts, das vom Franz-Sales-Haus finanziell gefördert wurde, würden wichtige Hinweise darauf geben, wie ein verantwortungsvoller Umgang mit Medikamenten heute und in Zukunft sichergestellt werden könnte.

Originalveröffentlichung

Uwe Kaminsky, Katharina Klöcker: Medikamente und Heimerziehung am Beispiel des Franz Sales Hauses. Historische Klärungen – Ethische Perspektiven. Aschendorff-Verlag Münster 2020, 270 Seiten, ISBN 9783402246979